„Sieben Kugeln zum Turm der Testuden“ – Leseprobe aus Kapitel 1 „Vor-Spiel“
Die Chance auf etwas Bestaunenswertes konnte sich ein echter Näsie natürlich nicht entgehen lassen. Als es Abend wurde, schli-chen die sechs also zu dem auf Kate gestylten Neubau der Parch-manns.
Es dämmerte. Die Silhouetten der Häuser verwandelten sich in Scherenschnitte. Vom Abendwind wurde der faulige Geruch alter Komposthaufen zum Anger getrieben. Irgendwo kläfften wütende Köter. Gelegentlich tauchte ein Schatten über den Bürgersteigen der Dorfstraße auf, verschwand aber sofort wieder. Mit einem Wort: Ein wenig Gänsehaut hatten die jungen Helden schon, bevor es über-haupt losging.
Rahman erwartete sie an der Pforte zum Vorgarten. Er winkte, drückte den rechten Zeigefinger auf den Mund und sah sich unsicher um. „Ist euch auch niemand gefolgt? Ihr habt doch keinem verraten, wo ihr hin seid? Das darf nicht rauskommen.“
„Spinner! Mach dir nich ins Hemd wegen deinem Hokuspokus.“
Hagen schüttelte den Kopf.
Hinten im Garten, in einer unauffälligen Ecke des Grundstücks stand Rahmans Hütte. Die übrigen Kinder waren verunsichert. Auf Parch-manns Grundstück waren sie noch nie gewesen … und man konnte ja nicht wissen … „Der Alte ist Pakistani“, hatte Hagens Vater so wissend erklärt und es hatte geklungen wie „Die braten sich sonn-tags Kinderfleisch“. Da musste nichts dran sein, aber …
Endlich hatten sich alle in die Hütte gedrängt. Jens, als Anführer, setzte sich als Erster. Schließlich musste er zeigen, dass wenigstens er keine Angst hatte. Petra, die Klügste in der Schule und auch sonst Ehrgeizigste der Gruppe, quetschte sich neben ihn und Sonja, das einzige Mädchen, das oft, aber natürlich vergeblich versuchte, die Jungen von ihren Prügeleien abzubringen. Dann kam Hardy, der sich eigentlich langweilte, weil ihn nur lange zurückliegende Geschichte interessierte, solche aus der Zeit der Königreiche und früher, Hagen, der brummte „Na, da bin ich aber gespannt“, um sich Mut zu machen und den anderen zu zeigen, dass er welchen hatte, und die kleine blonde Lisa, die heimlich hoffte, Rahman möge sie endlich zur Kenntnis nehmen. Als Letzter kroch Rahman selbst hinterher, in der Hand eine Kugel. Er konnte sie mit seinen Fingern etwa zu einem Drittel umfassen. Sie hatte ungefähr zehn Zentimeter Durchmesser. So schätzten die anderen und waren etwas enttäuscht. Das angekündigte Wunderding war absolut unscheinbar und grau, sofern die Farbe im Dämmerlicht überhaupt festzustellen war. Nein. Obwohl Rahman sie hochhielt, fiel keinem etwas Bemerkenswertes auf. „Wunderkugeln sehen bestimmt anders aus.“ Damit sprach Hagen nur laut aus, was eigentlich alle dachten.
„Na, dann nimm sie mal!“, wandte sich Rahman an Lisa.
„Uff!“, rief das Mädchen überrascht, nachdem es die Kugel aufge-fangen hatte. „Ist die leicht! Mit der bekäm sogar ich im Kugelstoßen ‚ne Eins. Ein Ball aus Stein. Hohl?“
Rahman zuckte mit den Achseln und Lisa reichte die Kugel weiter. Alle wogen sie in den Händen, strichen über ihre Oberfläche und stimmten Lisa zu. „Ein Stein ist es nicht“, sagte Sonja, „aber was dann?“ Hagen brummte unwillig. „Okay, etwas sonderbar ist das Ding. Aber ein Wunder?“
Rahman war mit der Reaktion der anderen zufrieden. Er verschwand kurz und kam mit fünf weiteren Kugeln zurück. „So, jetzt könnt ihr vergleichen!“ Lisa betastete eine zweite Kugel, warf sie leicht hoch, fing sie auf und meinte: „Die ist genauso.“
„Und der Rest?“ Rahman wartete ab, bis Hagen als Letzter der Gruppe alle Kugeln miteinander verglichen hatte. Es gab keinen Zweifel. Alle sechs waren identisch. Dieselbe graue Farbe, die glatte Oberfläche und das geringe Gewicht – mehr Eigenschaften ließen sich beim besten Willen nicht feststellen.
„Das werden wir gleich haben!“ Petra nahm Sonjas Kugel in die linke Hand und klopfte sie gegen ihre eigene. Ein dumpfer Ton, kein Nach-hall. „Hm. Hohl klingt anders, glaub ich“, stellte Petra nachdenklich fest. Was war denn nun mit den Dingern?
Nun schlugen auch die anderen ihre Kugeln aneinander. Immer derselbe dumpfe Ton. „Wenn ich‚s doch sage“, murrte Petra. Warum glaubten die anderen ihr nicht? Dann mutmaßte sie: „Vielleicht ist was Flüssiges drin?“
„In einem Stein … Erzähl das deiner Oma!“ Hardy tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Unbemerkt war Rahman noch einmal nach draußen gegangen. Als er wieder in der Tür auftauchte, mühte er sich vorwärts wie ein alter Mann, dem die Last den Rücken gekrümmt hatte. Hardy und Hagen lachten. Es sah einfach zu komisch aus. Rahman presste seine Kugel mit beiden Händen an die Brust. Trotzdem konnte er sie anscheinend nicht halten. Er ließ sie fallen und sie schlug vor seinen Fußspitzen auf den Boden.
„Sehr witzig! So was Schweres haben wir noch nie gesehen.“ Hagen lachte und griff lässig mit der Linken nach der Kugel. Pech für ihn. Nicht nur, dass sich die Kugel am Boden kaum bewegte, Hagen fiel auch noch seine eigene aus der Hand. Wie von einer magischen Kraft angezogen rollte sie auf die schwere zu und blieb fest an ihr haften. „Und jetzt lasst die anderen auch los!“, forderte Rahman.
Kaum am Boden, kullerten die übrigen Kugeln zu der schweren und dann hafteten sie fest an ihrem neuen Mittelpunkt. Eine Art Kugel-modell war entstanden.
„Von wegen Wunderkugeln … Wahrscheinlich ist ein gewöhnlicher Magnet drin!“ Enttäuscht zog Petra die Schultern hoch.
„Kann sein. Vielleicht so etwas Ähnliches“, antwortete Rahman, „aber was es wirklich ist, weiß ich noch nicht. Die leichten Kugeln zieh‚n einander nämlich nicht an.“ Das hatten die anderen Kinder bald selbst ausprobiert. Ähnlich wie bei Magneten war es ihnen erst schwergefallen, die Kugeln von der schweren zu lösen. Mit wach-sendem Abstand ließ die Anziehungskraft aber schnell wieder nach.
„Wo hast du die denn her?“, fragte Lisa.
„Hab ich doch schon gesagt. Ausgebuddelt beim Bauen auf unserem Grundstück.“
„Wie Steine?“ Hagen sah abwechselnd mal zu den Kugeln, mal zu ihrem Besitzer. Der schien verärgert. „Was soll die Frage? Wie Steine?! Dass das keine sind, merkt man ja wohl, oder?“
„Ob die für irgendetwas gut gewesen sind? Einfach nur so haben sie bestimmt nicht in der Erde gelegen …“ Lisa guckte etwas verträumt auf den Jungen, dessen Gesichtszüge fast ganz vom Schatten des blauschwarzen Haares verborgen wurden. „So glatte runde Kugeln gibt es bestimmt nicht in der Natur.“
„Ist doch klar. Die lagen schon lange dort. Vielleicht Kanonenkugeln aus Wallensteins Zeiten.“ Hardy sprang auf. Fast wäre er mit dem Kopf an die Decke der Hütte gestoßen. Die anderen lachten.
„Du immer mit deinem Wallenstein!“ Hagen winkte stöhnend ab. „Du nervst!“
„Klar: Wallensteins Astrologe hat sie hohl gezaubert. Damit sie extra weit fliegen. Warte, ich hab einen besseren Vorschlag: Die gehörten Münchhausen. Der ist drauf geritten.“ Mit einem kräftigen Ruck packte Jens eine der Kugeln und hielt sie sich unter den Hintern. Dazu machte er ein Geräusch, das wohl so klingen sollte, als pfiffe eine Kanonenkugel durch die Luft. Alle prusteten los und hielten sich die Bäuche, bis Petra aus heiterem Himmel heraus behauptete: „Nein. Die kommen aus dem Weltall!“
Sofort verstummten die anderen. Zugestimmt hätte zwar keiner – außerirdische Kugeln, das war natürlich auch Quatsch – aber faszi-nierend war der Gedanke schon.
Das war seine Gelegenheit. Rahman rutschte auf seinem Platz hin und her. „Es sind genau sieben – so wie wir“, sagte er mit betont feierlicher Stimme. „Jeder von uns könnte also eine behalten. Wenn ihr schweigen könnt. Dass mir niemand was davon erzählt! Vor allem keinem Erwachsenen. Dann wären wir sie wieder los. Bestimmt.“ Alle nickten schweigend. Rahman verteilte die Kugeln. Die leichten zuerst. Lisa gab er zum Schluss die schwere. Er versicherte ihr, dass er sie ihr nach Hause tragen würde. Lisa lächelte glücklich. Was für ein Augenblick! Endlich war es raus: Rahman mochte sie. Mehr als alle anderen.
„So, und jetzt muss jeder schwören“, fuhr Rahman mit seiner Rede fort. „Sprecht mir nach: Wir wollen die Kugeln fürs ganze Leben sicher verwahren und keinem außerhalb unserer Gruppe davon er-zählen. Von nun an treffen wir uns hier in jedem Jahr am selben Tag. Diese Kugeln sollen das Zeichen sein für unseren Bund fürs Leben.“
War das feierlich! Wenn Rahman in diesem Moment von jedem einen Blutstropfen verlangt hätte – er hätte ihn garantiert bekommen. Selbst Hagen riss sich zusammen. Plötzlich verband sie alle ein durch unheimliche Kugeln, vielleicht sogar außerirdische, besiegelter Bund. Obwohl nur Lisa auf die Idee kam, dass man ‚Bund fürs Leben‘ wohl für eine Ehe sagte und sie nun mit Rahman und den anderen verheiratet sein könnte.
Sie schwiegen einen Moment lang, blieben aber nicht mehr lange in der Hütte versammelt. Jeder nahm seine Kugel und ging.
Tja, so pathetisch hatte es begonnen. Aber schon vor Ablauf des folgenden Jahres zog Lisas Mutter zu ihrem neuen Lebenspartner nach Berlin und nahm die heimlich verliebte Elfjährige natürlich mit. Die arme Lisa fühlte sich wie Gepäck. Kurz vor der Abreise betrach-tete sie traurig die bis dahin mit vielen Tricks verborgene Kugel. Grübelte lange, bis sie eine Lösung fand, das schwere Symbol ihres Bundes wenigstens heimlich im Gepäck unterzubringen. Lisa hatte sogar daran gedacht, die Kugel Rahman zurückzugeben oder wenig-stens zu tauschen. Es waren eigentlich doch alle seine. Aber was hatte er gesagt? „Sie ziehen sich an wie Magnete. So wie wir.“ Lisa hatte ihm dafür einen Kuss gegeben. Ob es etwas verändert hätte, wenn aus den beiden wirklich ein Paar geworden wäre? Wohl kaum. Denn auch die anderen gingen getrennte Wege und mit ihnen ihre Kugeln. Bald dachten sie nur noch ungern an ihren Bund. Hatte die damalige Szene, diese Begeisterung nicht etwas kindlich Naives, ja sogar Komisches? Richtig peinlich! Als ob es nicht genügt hätte, dass sie ständig wegen ihrer Herkunft verprügelt worden waren! Spätestens mit zwölf, dreizehn fühlten sie sich zu erwachsen für solche Spiele. Zunächst trafen sie sich noch. Lisa schrieb Rahman wöchentlich einen schmachtenden Brief. Später dann ungefähr monatlich. Dann kam in ihre neue Klasse ein Junge, der ungeheure Ähnlichkeit mit Porty hatte. Ohne ein Porty-Poster kam kein Mäd-chenzimmer aus und dieser Neue hatte ihre Hand viel länger ge-halten als für einen Gruß nötig. So gab es noch einen Brief an Rahman, um den Termin ihres nächsten Treffens zu verabreden. Das kam dann aber schon nicht mehr zustande.
Die Faszination des kindlichen Schatzes ließ auch bei den anderen immer mehr nach. Die Näsies wurden inzwischen nicht mehr ver-prügelt. Offenbar hatte sie aber nur das miteinander verbunden, um nicht aneinander gekettet zu sagen. Rahman, Hardy und Hagen versuchten noch ein paar Mal, dem Geheimnis ihrer Wunderkugeln auf den Grund zu gehen. Wunder konnte es einfach nicht geben. Das lernten sie in Physik. Mit Steinen und Hämmern klopften die Jungen auf ihren Kugeln herum. Hardy lieh sich dafür von seinem Vater einen Körner aus, sie spannten die Kugel im Schraubstock ein, doch das Einzige, was sie erreichten, war, dass der Körner ab-rutschte und Hagen ein paar Tage humpelnd herumlief. Die Kugeln ließen sich nicht beeindrucken. Selbst wiederholte Flüge gegen die Kirchenmauer störten sie nicht. Im Gegensatz zu der Mauer sah man den Kugeloberflächen danach den Zusammenprall nicht an. So etwas hatten die Jungen noch nicht erlebt. Sie phantasierten viel, was das wohl bedeuten könnte. Aber das gab sich bald wieder. Die Kugeln fristeten für Jahre ein unbeachtetes Dasein. Sie schienen sich zu nichts mehr zu eignen als zum Symbol einer endlich abgeschlossenen Kinderzeit.
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